A. Becker u.a. (Hrsg.): Körper – Macht – Geschlecht

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Titel
Körper – Macht – Geschlecht. Einsichten und Aussichten zwischen Mittelalter und Gegenwart


Herausgeber
Becker, Anna; Höfert, Almut; Mommertz, Monika; Ruppel, Sophie
Erschienen
Frankfurt a.M. 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
440 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Julia Heinemann, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien

Festschriften sind ein schwieriges Genre, das die Gefahr langatmiger Vorworte und unzusammenhängender Beiträge birgt. Dies ist zum Glück nicht der Fall bei der Festschrift für Claudia Opitz, die zu ihrem 65. Geburtstag erschienen ist. Opitz, Professorin in Basel, ist eine Vorreiterin der Geschlechter- und Körpergeschichte im deutschsprachigen Raum. Ihre Einführungen in die Geschlechtergeschichte sind seit 2005 nicht wegzudenken aus Forschung und Lehre.1 Der doppeldeutige Titel der Festschrift „Körper – Macht – Geschlecht“ charakterisiert nicht nur die gesammelten Beiträge, sondern auch Opitz’ eigenes Werk treffend, in dem Körper und Geschlecht immer in ihrer Relationalität zueinander und zu Machtverhältnissen untersucht werden.

Die Herausgeberinnen Anna Becker, Almut Höfert, Monika Mommertz und Sophie Ruppel verzichten auf eine lange einleitende Lobhudelei zugunsten einer kurzen Wertschätzung Opitz’ als Mentorin, die sie selbst und zahlreiche weitere Historiker:innen geprägt und gefördert hat – davon zeugen die 30, in fünf Sektionen gegliederten, Aufsätze in der Tat. Die in der Regel nicht mehr als zehn Seiten langen Texte bilden einen bunten Strauß an Themen. Als starkes verbindendes Element erweist sich aber das Interesse aller Autor:innen an Fragen und Methoden der Geschlechtergeschichte, das oft mit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsbetrieb verknüpft ist. Innerhalb dieses Rahmens gibt es viel Freiheit in der Textgestaltung, vom „klassischen“ Forschungsaufsatz über autobiographische oder philosophische Reflexionen zu Wissensarbeit und Universitäten bis zum Gedicht. Zeitlich bewegen wir uns zwischen dem Mittelalter und heute, wobei der Schwerpunkt in Opitz’ Forschungsepoche, der Frühen Neuzeit, liegt.

Im ersten Teil „Gelehrte Kontexte“ steht die Rolle von Geschlecht im Umgang mit Wissen und Wissenschaft im Zentrum, von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Was geschlechtergeschichtliche Perspektiven auf historische Situationen der Wissensproduktion vermögen, zeigen beispielsweise Monika Mommertz in ihrer Betrachtung des Haushalts als „Ermöglichungsstruktur“ (S. 21) für die Entwicklung der Naturwissenschaften, oder Sophie Ruppels Untersuchung des Verschwindens der Naturgelehrten Johanna Charlotte Ziegler aus der Geschichte: Die „Zieglerin“, im 18. Jahrhundert berühmt und auch unter männlichen Kollegen geschätzt, wurde im 19. Jahrhundert nicht nur missachtet, sondern verrissen. Dass ihr Werk bis in die 1990er-Jahre als „Damenphilosophie“ (Zitat nach Matthias Reiber 2, S. 75) heruntergespielt wurde, führt Ruppel auf die „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ im 19. Jahrhundert zurück, in der Frauen nicht mehr mit Gelehrsamkeit verbunden werden konnten. Sie kann so zugleich zeigen, wie unser Blick auf Wissenschaft oft Beiträge von Frauen ausblendet – im 18. Jahrhundert und heute.

Andere Beiträge in dieser Sektion richten einen kritischen Blick auf gegenwärtige Entwicklungen des Wissenschaftsbetriebs. Caroline Arni denkt beispielsweise über akademische Väter und Mütter und die damit verbundenen Beziehungen an Universitäten nach. Bea Lundt berichtet auf Basis ihrer Erfahrungen als Gastprofessorin über die University of Education Winneba in Ghana: Dort konnte ein neues Interesse am Fach Geschichte geweckt werden, indem afrikanische Perspektiven und Gender Studies verstärkt implementiert wurden. Dass Geschlechtergeschichte von politischer Relevanz ist, zeigt nicht zuletzt Eva Labouvie in ihrer Problematisierung des nach wie vor präsenten Vorwurfs, diese Art von Geschichte sei „parteiisch“ (S. 117) und deshalb „unwissenschaftlich“.

Der zweite Teil „Kontaktzonen“ nimmt globale Kontexte aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive in den Blick. So werden Frauen und Geschlechterverhältnisse als Objekte von Reiseberichten untersucht. Gabriela Signori stellt in ihrer Analyse spätmittelalterlicher Reiseberichte die Hypothese auf, dass männliche Schreiber seit dem 15. Jahrhundert vermehrt Frauen beschrieben, um Erfahrungen von Differenz zu formulieren, mithin Frauen zu „Kulturträgern“ (S. 147) wurden. Antje Flüchter führt das Potential der Perspektive anhand missionarischer Berichte vor, deren Beschreibung von Frauen in Südindien – nicht als Protagonistinnen, sondern als Typus – vor allem aussagekräftig ist für jesuitische Männlichkeitskonzepte. Mit Lady Montagu begegnen wir aber auch einer Verfasserin von Reiseberichten aus dem Osmanischen Reich. Kaspar von Greyerz und Kim Siebenhüner zeigen, dass ihre Handlungsspielräume nicht in erster Linie durch ihr Geschlecht, sondern vor allem durch ihre privilegierte Stellung als Adelige ermöglicht wurden.

Der dritte Teil „Politische Körper“ rückt das im Titel des Buches angesprochene Zusammenspiel von Körper, Geschlecht und Macht am stärksten in den Fokus. Anja Rathmann-Lutz und Anna Becker greifen das Thema der politischen Körpermetapher für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit auf: Rathmann-Lutz untersucht, wie Körper von Prinzessinnen und Rittern am französischen Hof des 14. Jahrhunderts zur Verhandlung von Ordnung genutzt wurden – sowohl symbolisch als auch ganz konkret bei Hinrichtungen; Körpermetaphern und Leiber waren also sehr viel enger verknüpft, als es die Forschung häufig annimmt. Becker zeigt, dass nicht nur Monarchien als vergeschlechtlichte politische Körper imaginiert wurden, sondern auch die Republik, die seit der Antike anhand der Lucretia mit Vergewaltigung und Suizid einer Frau in Verbindung gebracht wurde, während die republikanische Freiheit männlich konzipiert war. Männlichkeiten thematisiert auch Sandro Guzzi-Heeb: Er führt den intensivierten Onaniediskurs seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf einen Wandel der Familien- und Verwandtschaftsstrukturen und die Neukonzipierung von Staat und Bevölkerungspolitik als „Biopolitik“ (Foucault) zurück. Dabei kann er zeigen, dass Sperma als wirtschaftliche und gesellschaftliche Ressource verstanden wurde, die Austausch symbolisierte; Masturbation ist aber eben kein Austausch und somit eine Gefahr für den entstehenden Staat. Alle drei Beiträge führen so eindrücklich die politische Relevanz von Körper und Geschlecht vor Augen.

Im vierten Teil „Mediale Verhandlungen“ geht es um bildliche und literarische Motive. So anlysiert Susanna Burghartz ein ungewöhnliches Bild: Im „Venustanz“, gemalt von Hand Bock d. Älteren um 1570–1580, tanzen Frauen um eine Venusstatue im Basler Münster. Für das streng reformierte Basel war dies ungewöhnlich; laut Burghartz zeigt es aber den satirischen Umgang mit den religiös begründeten Einschränkungen der Zeit. Mit Achatz von Müllers Beitrag geht es ins späte 19. Jahrhundert, als Selma Lagerlöf ihren Roman „Gösta Berling“ schrieb, in dem „Kavaliere“ kühn und verantwortungslos selbst starke Frauen täuschen und demütigen, bis Lagerlöf ihren vermeintlichen Helden dekonstruiert.

Der letzte Teil „Praktiken, Partizipationen, Prozesse“ sammelt schließlich ein Potpourri weiterer Beiträge, die häufig den Gegenwartsbezug ihrer Themen besonders explizit machen. Andrea Griesebner greift das aktuelle Thema Femizid am Beispiel Österreichs auf, um einen Blick zurück auf den Eifersuchtsdiskurs der Frühen Neuzeit zu werfen. Martin Dinges untersucht die Rolle von Vätern bei der Sorge um die Gesundheit des Nachwuchses und erweitert so das Bild von Männlichkeiten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts um den fürsorgerischen Aspekt. Den Abschluss bilden vor allem Beiträge mit einem Schweiz-Bezug für die in Basel tätige Historikerin Opitz: Michaela Hohkamp verortet den Fall der Anna Göldi neu, die 1782 in Glarus wegen Hexerei angeklagt und wegen Vergiften eines Kindes hingerichtet wurde; Brigitte Studer zeigt, wie in der Schweizer Uhrenindustrie der 1950er- und 1960er-Jahre vor allem Frauen ohne Lobby den gesundheitsschädlichen Arbeitspraktiken ausgesetzt waren; und Regina Wecker schlägt abschließend einen Bogen zwischen der Zulassung von Frauen zum Studium in der Schweiz im 19. Jahrhundert, den Diskussionen um die Einführung des Frauenwahlrechts seit den 1920er-Jahren und aktuellen Debatten um Gleichberechtigung und Migration.

All diese Beiträge machen dies zu einem Sammelband, der vieles zu bieten hat. Er bringt konsequent geschlechtergeschichtliche Perspektiven zusammen, die Vergangenheit und Gegenwart in Beziehung zueinander setzen. Er bietet zahlreiche methodische Anregungen – die Autor:innen behandeln beispielsweise Geschlecht konsequent als intersektionale bzw. mehrfachrelationale Kategorie, was in der Geschlechtergeschichte schon lange selbstverständlich ist. Das Buch funktioniert zudem als kritischer Impuls zu aktuellen politischen Debatten: Da geht es um Gewalt gegen Frauen, um diverse Männlichkeiten, um die Fluidität von Geschlecht, um Fürsorge, um den Wissenschaftsbetrieb und um geschlechtsspezifische Arbeit. Es kann aber auch einfach ein Band sein, den man mit großem Genuss liest oder verschenkt, denn man merkt den Autor:innen an, dass sie Freude beim Schreiben der Gedankenspiele und historischen Analysen hatten. Wie immer wird jede:r dieses Buch anders lesen – in jedem Fall aber Neues lernen. Die Lektüre zeigt: Es wurde viel erreicht, und es bleibt noch viel zu tun.

Anmerkungen:
1 Claudia Opitz, Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in die Geschlechtergeschichte, Tübingen 2005. Vgl. dies., Geschlechtergeschichte, Frankfurt am Main 2010, aktualisierte Fassung 2018.
2 Matthias Reiber, Anatomie eines Bestsellers. Johann August Unzers Wochenschrift «Der Arzt» (1759–1764), Göttingen 1999, S. 61.